Nervensystem regulieren: Was Stress in eurer Familie nachhaltig auflöst
„Ich hab doch schon so viel gelesen, ich weiß, wie es geht. Aber im Alltag habe ich oft eine total kurze Zündschnur.“ Warum uns als Eltern von Kleinkindern immer wieder unser Nervensystem dazwischenfunkt und was in Stresssituationen schnell hilft, darüber spreche ich mit Familientherapeutin und Nervensystem-Expertin Alexandra Keyling – inkl. Videointerview.
Was hat unser Verhalten als Eltern mit unserem Nervensystem zu tun?
Alexandra Keyling: Wenn wir entspannt sind, dann sind wir feinfühlig. Ich kann meinem Kind zuhören, bin geduldig, dann läuft alles gut. Anders sieht es aus in schwierigen Situationen aus.
Dann ist unser Gehirn im Stressmodus. Da funktioniert unser präfrontaler Kortex, also der neuste Bereich, nicht mehr so, wie wir es gerne hätten. Was wir wissen und in Erziehungs-Ratgebern gelesen haben, ist aber genau da abgespeichert.
Wir können über das alles gar nicht mehr in Ruhe nachdenken, sondern mit einem Mal werden Gefühle ausgelöst und wir greifen auf Vorprogrammiertes zurück. Oft ist es das, was wir selbst erlebt haben, als wir groß geworden sind.
Dann sagen wir zum Beispiel Sachen, die wir nie sagen wollten.
Das ganze Interview als Video
Stefanie: Was hilft in solchen Stressmomenten?
Alexandra: Ein gut reguliertes Nervensystem. Das bedeutet, dass wir im sogenannten Stresstoleranzfenster bleiben können weil wir unser Nervensystem selbst regulieren können. Da sind wir gut in Kontakt mit unserem Kind und auch mit anderen Menschen und uns selbst. Wir fühlen uns wohl, wir haben einfach optimale Bedingungen, um zu wachsen und Neues zu lernen.
Sie macht wellenförmige Bewegungen der Hände.
Trotzdem gibt es auch in diesem Rahmen, also innerhalb des Stresstoleranzfensters, Schwingungen nach oben und unten – es ist nicht immer alles easy peasy. Der Stress steigt auch hier mal an. Wir können uns dann aber trotzdem noch regulieren: Wir denken immer noch mit.
Wenn der Parasympathikus aktiviert wird, also der Teil des Nervensystems, der die Entspannung steuert, können wir wieder runterfahren. Und es entsteht sozusagen eine Wellenbewegung. Es ist ein Auf und Ab. Wir sind dann gut reguliert, aktiv in Situationen und können Dinge beeinflussen.
Wir können lernen, dieses Herunterfahren ein Stück weit zu beeinflussen, etwa durch bewusstes Ausatmen in einer solchen Situation.
Selbstreguliert zu sein, bedeutet zwar nicht, dass es nie stressig wird. Aber wir können noch mitdenken und reagieren, wir sind uns nicht selbst ausgeliefert.
Praktische und ganz einfach Körper-Übungen zur Nervensystemregulation, die sich auch wunderbar in den Alltag mit Kindern integrieren lassen, findet ihr in den Büchern von Dr. med. Claudia Croos-Müller.
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Nervensystem regulieren
Was passiert, wenn wir uns nicht regulieren können?
Alexandra: Es kann auch passieren, dass wir aus dem Stresstoleranzfester, also dem Wohlfühlbereich, oben rausfliegen. Dann hängen wir hier oben fest. Dann sind wir sehr, sehr unruhig, haben vielleicht sogar Panik oder Angst. Vielleicht schreien wir als Eltern dann viel und bekommen selbst Wutanfälle.
Es gibt aber auch die andere Richtung, wenn man also aus dem Stresstoleranzfenster nach unten absackt. Das kann sich als Antriebsschwäche auswirken, es geht eher Richtung Depression. Man zieht sich zurück, ist nicht mehr präsent beim Kind.
Beide Extreme können auch aufeinander folgen. Das ist mir auch schon mal passiert.
Wenn man da nicht mehr alleine herausfindet und sich regulieren, also in den Wohlfühlbereich zurückkommen kann, dann sollten man therapeutische Hilfe suchen.
Wie können wir vermeiden, Druck weiterzugeben? Kann man Selbstregulation lernen?
Alexandra: Es gibt nicht diesen einen Tipp, also einen Schnipps, und in der nächsten Situation wird es nie mehr so laufen. Auf Instagram sieht man solche Tipps immer wieder, Übungen, die den sogenannten Vagusnerv, also den Parasympathikus, anregen sollen, damit wir runterfahren können. Ich kenne sie auch. Häufig sieht man eine Selbstumarmung.
Sie überkreuzt beide Unterarme und legt sich die Hände an die Oberarme und beklopft sich wechselweise mit den Händen.
Aber es ist einfach wirklich ein Prozess. Denn häufig haben wir nicht gelernt zu spüren, wo unsere Grenzen sind, was wir eigentlich wollen und brauchen. Darum ist es für uns so schwer rechtzeitig zu merken, wenn es in die falsche Richtung läuft. Es geht darum, das immer noch ein Stückchen früher zu spüren – eben bevor es „Bäm“ macht.
Darum geht es auch bei Achtsamkeitsübungen: Wie geht´s mir gerade? Was brauche ich jetzt?
Wie könnte das konkret im Eltern-Alltag aussehen, wenn wir aus unserem Stresstoleranzfenster fallen?
Alexandra: Im Alltag kann das so aussehen: Dein Kind will sich nicht anziehen. Du musst aber in 10 Minuten los, weil du sonst so spät zur Arbeit kommst. Da steigt schon der Stress. Wenn wir jetzt durchatmen können und aktiv versuchen, uns im grünen Bereich zu halten, dann haben wir die Chance, wieder in Verbindung mit unserem Kind zu kommen.
Oft läuft das aber anders: Wir geben Druck an unser Kind weiter. Vielleicht sage ich dann Sachen wie: „Ich geh jetzt aber, ich fahre alleine.“ Oder ich schreie. Oder ich ziehe mich ganz raus und ziehe mich zurück. Das ist dann das andere Extrem.
Das Kind denkt dann aber nicht: „Oh, Mama ist gestresst, ich ziehe mich besser an.“ Sondern unser Kind spürt unsere Unsicherheit, bräuchte aber Sicherheit und Orientierung. Und das zeigt sich auch sofort im Nervensystem des Kindes: Es fällt auch aus seinem Stresstoleranzfenster raus wie wir.
Kleine Kinder müssen erst noch lernen, sich selbst zu regulieren. Dafür sind sie anfangs sehr auf uns Bezugspersonen angewiesen.
Kommen wir mal konkret zu der Situation mit dem Kleinkind zurück, das sich nicht anziehen lassen will und wir müssen aber los: Was tust du da konkret, damit es nicht eskaliert?
Alexandra: Wenn du selbstreguliert bist, dann kannst du anders in eine Interaktion gehen. Das Kind hat ja tausende Gründe für sein Verhalten. Etwa weil es einfach kognitiv noch nicht in der Lage ist, sofort Dinge umzusetzen.
Wahrscheinlich können wir die Situation erstmal gar nicht verändern. Wenn uns das stresst, dann ist unsere Aufgabe, für uns zu sorgen. Was kann ich in dem Moment für mich tun? Denn dann fühle ich mich in diesem Moment nicht mehr so ausgeliefert.
Dann trinke ich ein Glas Wasser – oder ich atme ein paar Mal ganz tief in den Bauch. Und das Kind darf dann vielleicht noch kurz seinen Turm zu Ende bauen. Das klingt so einfach. Und das zaubert auch nichts weg. Aber wenn wir es immer wieder üben, dann merken wir – hey – wir könne etwas beeinflussen.
Im besten Fall spüren wir dann, dass wir uns in eine andere Verfassung bringen können. Und das wirkt auch auf das Kind: Da hast du noch keinen Ton gesagt, aber das Kind merkt sofort einen Unterschied. Das erlebe ich super, super oft.
Vielleicht kommt mir dann die zündende Idee, wie ich mein Kind doch noch motivieren kann, sich die Schuhe anzuziehen und mit mir in den Kindergarten zu fahren.
Wie lange dauert es, bis wir unser Nervensystem so regulieren können?
Alexandra: Man darf nett zu sich sein. Solche Zusammenhänge sind schnell erklärt und schnell verstanden. Man sollte aber keinen Zwang daraus machen, nach dem Motto: „Oh Gott, ich muss immer im Stresstoleranzfenster bleiben.“
Am Anfang sind es nur Mini-Trampelpfade in unserem Gehirn, wenn wir neue Gewohnheiten aufbauen wollen. Aber wenn wir sie häufiger nutzen, dann können irgendwann fette Autobahnen daraus werden. Aber das braucht Zeit – und Übung.
Alexandra Keyling
ist Familientherapeutin und berät Familien online und in ihrer Praxis zwischen Düsseldorf und Köln rund um das Thema Ängste und Nervensystem.
Ihr findet sie unter www.alexandra-keyling.de.
Hört auch mal in ihren Podcast „Familienstark“ rein.
Ich bin Stefanie
Als Diplom-Musikpädagogin begleite ich Eltern nach meinem Musilienz-Ansatz dabei, ihre eigene musikalische Begabung = Wahrnehmung zu entwickeln, Musik zu ihrer Kraft- und Balancequelle im Alltag zu machen und musikalische Ausgeglichenheit an ihre Kinder weiterzugeben. Mehr zu meiner Arbeit …
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